Kein Weihnachten ohne Weihnachtsgeschichte! Daher danken wir Norsin Tancik herzlich, dass sie uns für unseren Adventskalender eine waschechte Weihnachtsgeschichte geliefert hat.
Es gibt eine Zeit im Jahr, auf die ich mich ganz besonders freue. Dieses Mal fing sie am Wochenende vor der Frankfurter Buchmesse an, als ich das erste Blech Vanillekipferl backte – nach einem Rezept, das ich in den letzten Jahren verfeinert habe. Ende Oktober beschwerte sich mein Lebensgefährte zum ersten Mal über meine weihnachtliche Playlist, die laut durch die Wohnung schalte, um Helene Fischer vom Nachbarn zu übertönen, während ich das inzwischen dritte Blech Vanillekipferl aus dem Ofen holte.
Es ist aber nicht nur die Zeit der stillen Freuden, des ersten Schnees und der Nächstenliebe, sondern auch der Mails, die mich über verschiedene Wege erreichen – adressiert an BuchKarriere, der Karriereplattform, die ich seit über drei Jahren gemeinsam mit Rebekka Kirsch betreibe. Es sind Geschichten, die mich wütend machen, verunsicherte Anfragen, die ich einfach nicht glauben möchte – doch sie sind da, und sie sind schrecklich real.
Deshalb nutze ich die Möglichkeit, selbst eine Geschichte zu erzählen. Es ist die Geschichte der Buchbranche. Sie war zu einem hartherzigen, alten Geizkragen geworden, schmückte sich aber gerne in glanzvollen Großstädten mit großen, ehrwürdigen Namen. Ihre Mitarbeiter waren unterbezahlte Angestellte mit befristeten Verträgen.
In der Weihnachtsnacht erhielt die Buchbranche unerwarteten Besuch: Es war der Geist der vergangenen Zeit, der um ein Uhr morgens in ihren Träumen auftauchte. Er führte sie in ihre eigene Vergangenheit zurück – hin zu wichtigen Entwicklungen und Strömungen, glanzvollen Verlegerpersönlichkeiten und großen Autoren. Die Vor- und Frühformen des Buches auf Papyrusrollen und Pergamentkodex zur Wissensspeicherung, der Handschriftenhandel in den Klöstern und Bibliotheken, Johannes Gutenberg, der den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand, den Auf- und Niedergang der buchhändlerischen Handelszentren im 17. Jahrhundert, die Einflüsse der Aufklärung und der Entwicklung des Übersetzermarktes, die Zäsuren durch die Weltkriege, Peter Suhrkamp, der seinen Verlag gegen die Nationalsozialisten und für seine Autoren verteidigte und dies mit seiner Gesundheit bezahlte, die Bücherverbrennungen, Gottfried Bermann Fischer, der aus dem Exil heraus noch seine Autoren publizierte, der Rowohlt-Verlag, der nach dem Krieg bei Papierknappheit mit Hilfe des Rotationsverfahrens Taschenbücher für den Massenmarkt öffnete, das erste Buch auf CD-ROM, die Entstehung des Online-Handels, das erste E-Book. Der Geist der Vergangenheit zeigt der Buchbranche alles, jede Entwicklung, mag sie noch so schön oder schmerzlich gewesen sein.
Die Buchbranche ist gerührt und verwirrt und fällt in einen unruhigen Schlaf. Eine Stunde später erhält sie wieder Besuch: Der Geist der gegenwärtigen Zeit spukt in ihren Träumen umher. Er führt ihr den eigenen Hochmut, ihre Arroganz und das Anspruchsdenken vor. Sie sieht die Menschen, die für sie arbeiten, oft nur für den Namen – und mit einer Aufstockung des Gehalts vom Amt. Im Elendsviertel lernt sie die ärmsten Volontäre kennen, denen es sogar am Nötigsten fehlt (außer an Büchern). Als sie den Geist verwundert fragt, ob es für Berufseinsteiger heute keine andere Lösung gebe, hört sie nur ihre eigenen Worte: „Dann wechsle halt die Branche. Falls nicht: Wir bieten dir gerne ein Folge-Volontariat an.“
Der Geist der Gegenwart verschwand, und in der Dunkelheit tauchte der Geist der zukünftigen Zeit auf. Die düstere Erscheinung führte sie über ein leeres Buchmesse-Gelände, auf denen Google, Apple und Amazon Ball spielten, und hin zu einem Grab. Sie blinzelte – und muss erkennen, dass sie die einsame, ungeliebte Tote war.
Wie endet diese Geschichte? Bei Charles Dickens Weihnachtsgeschichte wird Ebenezer Scrooge zum Gönner, verdoppelt das Gehalt seines Dieners, wird nett zu allen Menschen, spendet sein Geld für wohltätige Zwecke und versöhnt sich mit Familien und Freunden. Und in der Buchbranche? Das wird die Zukunft zeigen – und vor allem das nächste Jahr mit der Einführung des Mindestlohns und damit der erzwungenen Auseinandersetzung mit den Berufseinsteigern der Buchbranche. Es wird die nächste Herausforderung sein, die die Buchbranche anpacken und bezwingen soll. Denn nur attraktive Arbeitgeber ziehen talentierte Nachwuchskräfte an, die die Hürden der Digitalisierung und der Online-Konkurrenz mit frischen Ideen meistern.
Norsin Tancik (28) hat ihren Magister in Buchwissenschaft und Komparatistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gemacht. Während ihres Studiums arbeitete sie als freiberufliche Journalistin, absolvierte Praktika in der Buchbranche und gründete die Karriereplattform „BuchKarriere – Dein Platz in der Buchbranche“. Heute arbeitet sie als Sales & Marketing Managerin bei der Agentur Bilandia in München.