Warnhinweise auf Literatur – warum langfristig die Falschen leiden

Als ich anfangs die Meldung las, dass es in den USA Überlegungen zu Warnhinweisen auf Literatur gibt, war ich als eine der wenigen in meinem Umfeld nicht erschrocken und abwehrend, sondern ziemlich angetan. Dank der Gedanken von Barbara sehe ich das Thema jetzt etwas differenzierter und möchte sie euch daher nicht vorenthalten.

Foto von Barbara Hiller
© markusreuterphotography

Studenten in den USA plädieren für Warnhinweise auf Literatur. Im Ernst? Im Ernst. Bestimmte Inhalte, heißt es, könnten für bestimmte Menschen im Zusammenhang mit von ihnen durchlebten Traumata schädlich sein. So könnte die Szene einer Vergewaltigung z.B. bei Opfern sexuellen Missbrauchs zu einer posttraumatischen Belastungsstörung beitragen. Dabei ist die Definition der potenziell Betroffenen weit gefasst: Kriegsveteranen und Suizidgefährdete gehören dazu sowie Diskriminierte aller nur denkbaren Kategorien, vom Antisemitismus bis hin zur körperlichen Behinderung. So weit, so gut gemeint.

Hier lauert allerdings schon das erste Problem: Das sind ganz schön viele Kriterien, nach denen Unterrichtsmaterialien durchforstet werden müssten, und ganz schön vage. Denn ab wann sind Inhalte verstörend? Nicht nur zwischen Betroffenheitsgruppen, auch zwischen Individuen dürfte es hier deutliche Unterschiede geben. Die Menschen, von denen die Markierung verlangt wird, in diesem Fall also die Lehrbeauftragten von Universitäten, stünden so vor einer kaum bewältigbaren Aufgabe. Selbst wenn nach bestem Wissen und Gewissen ausgeführt, könnte immer noch ein Student eine Textstelle finden, die ihn persönlich verstört. Und dann? Würde er den Professor beim Rektor anzeigen, ihn vielleicht sogar verklagen? Kein Stoff wäre mehr „sicher“, selbst die Diskussionen im Unterricht müsste ein Dozent vorsichtig moderieren, einschränken, abwürgen. Die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlich brisanten Themen, die schließlich zur Kernaufgabe einer Universität gehört, wäre in so einem Klima nicht mehr möglich.

Aber nehmen wir an, ein Markierungssystem wäre tatsächlich für alle Varianten der Betroffenheit umsetzbar – welche Folgen hätte es? In erster Linie, ja, der Vergewaltigte könnte potenziell retraumatisierendem Stoff entgehen, die Suizidgefährdete sich vor, na ja … Weiterer Haken: Sie könnten sich auch gezielt Inspiration für ihr Vorhaben suchen. Davon aber mal abgesehen, nehmen wir an, die Markierungen hätten den gewünschten Effekt und die Betroffenen wären vor erschreckenden Erlebnissen sicher. Problem zwei also: Die Vorsicht der Dozenten, keinen falschen Schritt zu machen, würde auf Dauer dazu führen, dass bestimmte Themen nicht mehr so intensiv diskutiert würden. Dadurch würde die Scheu vor solchen Diskussionen zunehmen, und wäre der Teufelskreis erst einmal in Bewegung und die Warnhinweise nicht nur an der Uni eingeführt, würden sich vielleicht auch die Autoren bzw. deren Verlage gut überlegen, ob bestimmte Stoffe das abschreckende Label noch wert wären – Vergewaltigung innerhalb der Familie, das will doch heute keiner mehr lesen! Ein Geschichtsbuch zum Ersten Weltkrieg – versuchen Sie’s doch mal beim Konkurrenzverlag!

Und was würde das für Betroffene bedeuten? Ganz klar: eine geringere Wahrnehmung ihres Problems, dadurch weniger Aktivität zu dessen Beseitigung und gleichzeitig eingeschränkte Möglichkeiten, sich selbst damit auseinanderzusetzen, darüber zu sprechen, Hilfe zu holen. Langfristig hätten Warnhinweise der vorgeschlagenen Art also vor allem für die Betroffenen eine negative Auswirkung. Die einzigen, die wirklich davon profitieren würden, wären konfrontationsscheue Menschen, die sich aus Bequemlichkeit lieber in rosa Watte einwickeln als sich einzugestehen, dass diese Welt auch ihre unschönen Seiten hat und man – Achtung, Aufwand! – dagegen vielleicht sogar etwas unternehmen kann.

Barbara Hiller hat bei Dorling Kindersley ein Volontariat als Kinder- und Jugendbuchlektorin absolviert und ist nun auf Jobsuche. Sie bloggt auf www.schreibstoff.com, schreibt Artikel für die Zeitschrift Spotlight und liest gerade Wunder von Raquel J. Palacio. 

Storyseller: Arte erzählt eine eigenwillige Geschichte

Ich weiß nicht sicher, ob ich diesen Artikel schreiben will. Es geht um ein Thema, zu dem schon unendlich viel gesagt wurde, aber ich komme trotzdem immer wieder an den Punkt, an dem ich die Welt nicht mehr verstehe. Ich rede vom Arte-Film „Storyseller – Wie Amazon den Buchmarkt aufmischt“. Dieser in weiten Teilen wirklich gute Beitrag landet beim altbekannten Fazit, dass es die Verlage braucht, weil es ansonsten keine „gute“ (im Sinne von hochwertige, sperrige) Literatur gibt. Also das Argument der literarischen Vielfalt, dem ich in Bezug auf Buchhandlungen auch jederzeit zustimme, nur nicht in Bezug auf Verlage.

(c) arte.tv

Kann mir jemand erklären, warum wir schon wieder bei dieser alten Diskussion gelandet sind, dass es ohne Verlage kein Kulturgut Buch gibt? In einer der Facebook-Diskussionen zu diesem Thema ging es darum, dass die Self Publisher bei Amazon vor allem das Groschenroman-Genre abdecken, das heute in der ursprünglichen Form sowieso nur noch in geringem Rahmen existiert. Aber warum verdient dann Jürgen Schulze so viel Geld mit der Publikation von Klassikern als E-Book?

Was mich extrem stört, ist die angenommene Verdummung des Lesers. Wenn es nicht die guten tapferen Verlage gibt, die ihm gute Literatur auf dem Silbertablett servieren, kann dieser gar nicht mehr anders, als nur schlechte und seichte Literatur zu kaufen und zu konsumieren. Was für ein Mist! So viel fragwürdige Sachen Amazon auch macht, das Unternehmen hält keine Self Publisher davon ab, hochwertige E-Books hochzuladen. Daher gibt es auch auf Amazon gute Literatur und kein Leser wird davon abgehalten, sich diese zu besorgen. Und natürlich geht das ein oder andere hochwertige E-Book unter (was im Print-Markt nicht anders ist), aber die wirklich guten Texte werden auch hier gelesen. Selbst wenn es jetzt einen Überhang an seichter Literatur gibt: Ist doch egal, wird sich eh wieder ändern. Wenn ich eines in meinem Literaturstudium gelernt habe, dann das, dass es zu jeder Bewegung eine Gegenbewegung gibt. Die kommt vielleicht jetzt noch nicht, weil die Leser sich mit der vielen schlechten Literatur womöglich einfach wohl fühlen. Und nicht zu dumm sind, gute Literatur herauszufiltern!

P.S.: Der Vollständigkeit halber will ich erwähnen, dass es noch weitere Kritikpunkte zu diesem Film gibt, die u.a. Johannes Haupt auf lesen.net und Emily Bold (eine der porträtierten Self-Publishing-Autorinnen) äußern. Wer sich selbst ein Bild machen will, findet den Beitrag heute noch in der arte Mediathek. Morgen ist er dann wegen des Telemediengesetzes weg.

Verlage werden unwichtig

Die jüngere Generation von Lesern erinnert sich schlechter an den Verlag des Buchs, das sie zuletzt gelesen hat, als die ältere – so die Ergebnisse einer Kurzstudie des Instituts für Kreativwirtschaft an der HdM Stuttgart. Unzeitgemäßer Markenaufbau oder Folge eines komplett neuen Leseverhaltens?

Wichtigste Ergebnisse

© Institut für Kreativwirtschaft
© Institut für Kreativwirtschaft

Über 90 Prozent der Teilnehmer können sich an das zuletzt gelesene Buch erinnern, aber nur etwa ein Drittel an den Verlag des Buchs. Interessant wird das Ergebnis vor allem dann, wenn man einen Blick auf die Altersstruktur der Teilnehmer wirft. Am besten kennen die 30- bis 60-Jährigen den Verlag ihres zuletzt gelesenen Buchs und von diesen vor allem die Personen mit Hochschulabschluss. Im Fazit resümieren die Autoren:

Es ist zu erkennen, dass die Personengruppe, die sich nicht mehr an den Verlag erinnert, überwiegend aus der Altersklasse 17 bis 29 Jahre stammt und über einen hohen Schulabschluss (Abitur/Fachhochschulreife) verfügt. Dies ist besonders markant, da sich diese Zielgruppe am intensivsten mit neuen Medien auseinandersetzt, in denen Verlage aktuell versuchen ihre Marke zu platzieren.

Geändertes Leseverhalten

Content scheint wirklich King zu sein: Die jüngere Generation orientiert sich augenscheinlich vermehrt am Inhalt des Buchs – denn an dieses können sie sich in den meisten Fällen noch erinnern – und weniger am Verlag. Es scheint, als habe die repräsentative Funktion des Buchs ausgedient, weil es in der digitalen oder elektronischen Bibliothek anders als im Bücherregal wenig auffällt, von welchem Verlag welches Buch kommt.

Und es ist verständlich: Der große Belletristikverlag, der verschiedenste Genres wie Krimi, Thriller, Frauenroman, historischer Roman und Fantasyepos verlegt, ist per se kein Qualitätsprädikat – hat er doch viel zu viele Titel im Angebot, als dass diese alle den Geschmack eines Lesers treffen könnten. Anders ist es bei kleinen oder spezialisierten Verlagen und natürlich bei vielen Verlagen im Bereich Sach- und Fachliteratur.

Sind Marken überflüssig?

Die Autoren sprechen im Fazit bereits selbst die Alternative zu Marken an: Themenfelder oder Produktmarken. Und auch ich denke, dass dieser Fokus sinnvoll ist. Wie gesagt bietet eine entsprechend umfangreiche Marke keine Orientierung, und überhaupt sind der Autor des Buchs, die Serie oder die Geschichte, die erzählt wird, oft viel spannender als die Verlagsmarke an sich. Daher ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass der Leser von einem Buch erfährt und von ihm begeistert wird – ob das durch eine interessante Leseprobe, eine Rezension in seinem Lieblingsblog oder durch ein Alternate Reality Game geschieht, ist egal. Wichtig ist einzig, dass das Buch beim Leser ankommt und ihm gefällt. Selbst wenn das heißt, dass jedes Buch seinen eigenen Vertriebsweg bekommt.

Horror-Publikationen: "Ersetzen die e-books die Kleinverleger?"

Im Horror-Forum läuft eine interessant zu beobachtende Diskussion zwischen Autoren, Lesern und Leuten, die sowohl konsumieren als auch produzieren. Die Diskussion geht dabei von 8 Thesen von Uwe Voehl aus:

1. Die Kleinverlage wachsen aus dem Boden, viele dümpeln aber nur noch dahin.
2. Die Zeiten, in der der Horror-Fans sämtliche Veröffentlichungen der Kleinverlage gekauft hat, sind vorbei.
3. Mehrere Stimmen hier im Forum, die sich nicht mehr bedenkenlos SUBs eines Autors oder eines Verlags leisten.
4. Medusenblut veröffentlicht erstmals ein reines e-book.
5. Voodoo-Press stellt kommentarlos die SCREEM-Reihe ein.
6. Trotz der Expansion ist im letzten Jahrzehnt kein wirklich erstklassiger Autor aus der Kleinverlags-Szene emporgewachsen. Siefener, Sembten, Gruber – die waren schon lange vorher da.
7. Einige Kleinverlage schludern, was Lektorat, Übersetzung und Sorgfalt betrifft, investieren lieber in ein Hochglanzcover als inhaltliche Qualität – das rächt sich nun.
8. Mehr und mehr Autoren übernehmen das Ruder und verlegen ihre Werke selbst – als e-book.

Insgesamt ist die Diskussion noch recht „e-fern“ dominiert – bildet aber sicher auch kein repräsentatives Bild der Horror-Leserschaft ab. In meinen Augen (und angesichts der Erfolge von eBooks im amerikanischen Fiction-Markt) liegt hier eine (!) Zukunft des Marktes, die man tunlichst nicht ignorieren sollte. Im Bereich des Marketings etwa haben die Selfpublisher jede Menge neue Möglichkeiten (siehe etwa diesen aktuellen Gastbeitrag von Richard Norden in Marcus Johanus Blog), auch, um sich selbst als Marke zu etablieren und nicht mehr auf (Klein-)Verlage angewiesen zu sein.

(Via Vincent Preis)

Dein eBook liest dich!

For centuries, reading has largely been a solitary and private act, an intimate exchange between the reader and the words on the page. But the rise of digital books has prompted a profound shift in the way we read, transforming the activity into something measurable and quasi-public.

Reading wird digital und social – und bietet damit auch deutlich bessere Tracking- und Analysemöglichkeiten. Damit gibt es eine weitere Feedbackschleife von der Mediennutzung zur Produktpolitik.

Mit diesem Hinweis auf den sehr lesenswerten Artikel „Your eBook is reading you“ beim Wall Street Journal verabschiede ich mich ins Wochenende!

Lautes Lesen + Leises Lesen = Interaktives Lesen?

Interaktives Lesen ist als Entwicklung gar nicht ganz neu, sondern war bis zum Mittelalter Usus – eine interessante Herangehensweise in einem Zeit-Artikel über Social Reading.

Leises Rezipieren war bis 400 nach Christus weitgehend unbekannt. Noch Augustinus wunderte sich über einen stumm lesenden Zeitgenossen. Die großen Bibliotheken der Antike, schreibt Alberto Manguel in Eine Geschichte des Lesens, könnten durchaus geräuschvolle Orte gewesen sein, erfüllt vom Gemurmel der sich selbst vorlesenden Gelehrten.

Was leider nicht erwähnt wird, ist der Aspekt, dass sich das laute Lesen vor allem aus einem Zwang heraus ergeben hat: Frühe Texte hatten keine Wortabstände, so dass das laute Lesen essentiell war, um den Text zu verstehen. Heute ist es laut der Autorin eher das Bemühen der Produzenten, sich von der Konkurrenz abzusetzen, das für interaktive Elemente beim Lesen sorgt:

Ein E-Book, mit dem man nichts anstellen kann außer es zu lesen, ist ein langweiliges E-Book.

Vom Rest des Artikels, in dem über die Datenschutzdimensionen des „gläsernen Lesers“ spekuliert wird, bin ich nicht überzeugt. Natürlich ist der Datenschutz ein Punkt, der hier äußerst wichtig ist, aber im Moment steckt Social Reading noch in den Kinderschuhen und die weitere Entwicklung ist mehr als ungewiss. Also zu früh, um bereits jetzt die Negativpunkte zu betonen, wenn man noch gar nicht weiß, ob sie kommen werden. Interessant finde ich eher den Punkt, ob sich Social Reading auf breiter Basis ausbreiten oder ein nettes Spielzeug der netzaffinen Spezies bleiben wird.