Spaß, Neugierde und Idealismus: Interview mit einem Verlagsgründer [Teil II]

Das ist der zweite Teil unseres astikos-Interviews. Zu Teil I geht’s hier.

Hanna: Du hast in einem aktuellen Blogbeitrag geschrieben, dass ihr „pay what you want“ als Zahlmethode präferiert. Ist das schon sicher, dass es so läuft, oder steht das noch in der Diskussion? Daran anschließend: Wie viel Input und Ideen bekommt ihr schon von außerhalb eures Genossenkreises? Diskutieren schon die ersten mit oder werdet ihr noch kritisch beobachtet?

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Nikk Schmitz

Nikk: Ob wir pay-what-you-want bevorzugen, ist noch offen. Ich persönlich halte es aber auf jeden Fall für ein Konzept, das man ausprobieren sollte. Es besteht natürlich gerade bei diesem Versuch ein großes finanzielles Risiko für alle Beteiligten. Wir haben aber auch schon eine Idee, wie wir das bald mal ausprobieren – das wird ein schönes Gemeinschaftsprojekt ;-). Wir haben auch schon prima Input von außerhalb bekommen. Das lief bis jetzt zwar hauptsächlich über persönliche Gespräche (z.B. auf Messen und Netzwerkveranstaltungen), aber so langsam läuft die Kommunikation auch mit der Netzgemeinden an. Primär in den sozialen Netzwerken, aber auch auf unserem Blog kommen die ersten Kommentare an, was uns enorm freut. Wir wollen eben auch eine Diskussionsplattform bieten.

Hanna: Klingt nach einer Menge Aufgaben für etwas, das bei euch allen (?) nebenher läuft. Was ist eure Motivation dahinter, eure Ziele und Visionen? Und ist geplant, dass ihr irgendwann davon leben könnt?

Nikk: Ja, das ist wahr. astikos ist für uns alle zunächst ein Nebenprojekt und das wird sich auch so schnell nicht ändern. Natürlich wäre es schön, irgendwann tatsächlich davon leben zu können – momentan sind Spaß, Neugierde und Idealismus unser Hauptantrieb. Und was unsere Ziele angeht, hm, jetzt wo wir in Gründung sind, heißen die nächsten Ziele Überleben und Wachstum. Zumindest aus der Sicht des Unternehmens. Als Verlag sind unsere Ziele natürlich das Verlegen von Texten und das Erschaffen einer funktionierenden Diskussionsplattform.

Dennis: Was plant ihr denn in Sachen Kommunikationsplattform? Geht das in die Richtung Social Reading wie bei Sobooks? Was haltet ihr denn allgemein vom Sobooks-Ansatz, dass Lesen künftig vermehrt im Browser stattfinden wird – also explizit nicht in der Browsersoftware eines ePub-Readers, sondern in einem normalen Webbrowser?

Nikk: Momentan ist das erste Ziel in dieser Hinsicht, eine Diskussion zum Laufen zu bringen – und diese über die verschiedenen Kanäle zu bündeln. Wie genau das in Zukunft aussehen wird, das muss noch besprochen werden. Die erwähnten Ansätze sind durchaus spannend und kreativ. Ich hoffe, dass wir es hinbekommen, das eine oder andere Konzept auch mal bei uns auszuprobieren :). Man muss mal schauen, welche Ideen sich sowohl für das digitale, als auch das physische Produkt eignen.

Hanna: Um nochmal zum pay-what-you-want zurückzukommen: Das Modell geht doch in Deutschland wegen der Preisbindung gar nicht, oder?

Nikk: Darüber haben wir uns auch schon Gedanken gemacht. Theoretisch könnten wir ja Titel auch für 0 Euro hergeben – bleibt dann die Frage, wie man die „Spenden“ steuerlich zu betrachten hat.

Dennis: Es gab da mal nen Fall, der auch die ganzen Humble Bundles und co. abgeschreckt hat. Ich würde aktuell davon ausgehen, dass das Modell zumindest angegriffen wird.

Nikk: Ich gehe eh davon aus, dass wir uns immer wieder angreifbar machen werden – aber anders kommt ja auch keine Diskussion zustande. Es wäre halt sehr schön, wenn aus solchen Gedankenspielen am Ende ein Konzept entsteht, das man ausprobieren kann 🙂

Dennis: Was ist denn euer Ziel, das ihr mit astikos erreichen wollt – außer, gute Bücher über die Stadt zu machen?

Nikk: Haha – Revolution und Weltherrschaft natürlich. Aber Spaß beiseite – es wär schon sehr schön, wenn wir in ein paar Jahren so weit wären, dass wir davon leben können. Abgesehen davon, möchte ich Spaß und Unterhaltung.

Dennis: Klingt nach einer spannenden Umsetzung des Slowentrepreneuship-Ansatzes!

Ich habe nur noch eine Frage: Wann kriegen wir denn die ersten Titel von astikos zu sehen, was für Titel sind das – und was kosten sie bei welchem Umfang?

Nikk: Vielen Dank! Die ersten Titel sind schon fast fertig, damit wir sie möglichst schnell nach Bestätigung der Gründung veröffentlichen können. In unserem ersten Programm liegt der Fokus auf kurzen Textformen, die es üblicherweise schwer haben bei einem Verlag unterzukommen. Die digitalen Versionen unserer Mikros (so heißt unsere Reihe für Kurzgeschichten) werden für ca. 2 Euro pro Stück erhältlich sein.

Hanna: Am Schluss möchten wir den Spieß noch kurz umdrehen: Welche Frage hättest du dir gewünscht, dass wir dir stellen, und wie hättest du sie beantwortet?

Nikk: Hm – wie wäre es mit „Möchtest du noch jemanden grüßen?“ Worauf ich dann antworten würde „Na klar! Meine wundervolle Frau, meine Familie und natürlich meine Homies!“ 😉

Hanna: Das ist ein schönes Schlusswort :). Im Namen von Dennis und mir vielen Dank fürs das Interview!

Nikk Schmitz, geboren und aufgewachsen in und um München, ist studierter Literaturwissenschaftler, passionierter Brettspieler und Bücherenthusiast. Er erblickte das Licht der Verlagswelt bei einem Praktikum in einer Literaturagentur und ist inzwischen rundum Hersteller. Angefangen hat das Herstellerdasein bei einem kleinen Münchner Digitalverlag und wird jetzt bei einem großen Verlag, der primär im Printbereich tätig ist, abgerundet. Ach ja – und seit Kurzem ist er Mitbegründer des Verlagsprojektes astikos.

Kleiner Pressespiegel zum Themenkomplex Nachwuchsrechte

Update 17.12.2016: Es gibt nun eine Neuauflage der Umfrage (Blogartikel dazu). Bis zum 15.1. werden Daten gesammelt, wie die Situation nach dem Mindestlohngesetz ist. Ergebnisse dann in Leipzig.

Das Thema ist ja nicht ganz neu: Frustrierte Volontäre, Praktikanten und andere sind seit Jahren immer wieder kurz präsent, dann wieder weg. Schon 2013 hatten wir mal eine Blogparade gemacht. (Mein Lieblingsbeitrag kam von Steffen.)

Um dem Thema etwas mehr Nachhaltigkeit zu verleihen und es vor allem unabhängig von lauten Einzelfällen empirisch zu untersuchen, haben wir mit den Jungen Verlagsmenschen im Dezember und Januar 14/15 eine Umfrage unter dem Branchennachwuchs durchgeführt. Deren Ergebnisse wurden auf der Leipziger Buchmesse präsentiert und fanden einiges Echo. Hier ein kurzer Überblick:

Du willst was mit Büchern machen? Gute Nacht!

Es gibt schönere Dinge auf dieser Welt, als einen Job in der Buchbranche zu finden. Für die, die es trotzdem versuchen wollen: Dennis und ich fühlen uns gerade weise genug, ein paar Erfahrungen aus unseren letzten Such-Phasen weiterzugeben.

Life comes first

  • Sich nicht über Arbeit definieren und Kontakt zu Freunden halten: Ein wichtiger Tipp, den mir ein Freund ehrenhafterweise schon frühzeitig gegeben hat. Wenn man sich über einen Job definiert – und irgendwie tun das die meisten von uns -, fällt in einer Such-Phase ein relevanter Pfeiler des Selbstwertgefühls weg. In der Folge ist man deprimiert und zieht sich sozial zurück. Genau das darf aber nicht passieren. Man muss sich vor Augen halten, dass jeder Mensch mehr wert ist als sein Job – viel mehr! Und gerade in schwierigen Zeiten ist es wichtig, intensiven Kontakt mit seinen Freunden zu halten, weil die einen nämlich wieder daran erinnern. (Hanna)
  • Don’t stand alone: Das gilt nicht nur im Falle einer Zombie-Apokalypse, sondern eigentlich in jeder Krise. (Eigentlich-eigentlich immer.) Dabei ist es wichtig, sich nicht von den Erfolgsgeschichten von Leuten verunsichern zu lassen, deren Lebenslauf glatter, deren Auslanderfahrungen ausgedehnter und deren familiärer Hintergrund elitärer ist. (Ja, richtig geraten: In all diesen Punkten bin ich eine Niete.) Die leben nicht euer Leben, sondern ihres. Die krummsten Biographien haben zu den spannendsten Ergebnissen geführt. Einfach weitermachen! (Dennis)
  • Mit skurrilen Tipps umgehen lernen: Das ist einer der tückischeren Punkte, weil er etwas schleichend kommt. In den ersten Wochen geht jeder davon aus, dass man schon bald (wieder) einen Job haben wird. Und irgendwann hat’s immer noch nicht geklappt und dann wird die Familie/der Partner/der BWLer-Freund nervös und gibt eifrig Tipps – die bisweilen komplett an der Realität vorbeigehen. Was total nett gemeint ist, aber überhaupt nichts bringt. In solchen Fällen hilft es, tief durchzuatmen und sich sachlich zu verhalten. Und alle größeren Veränderungen vorsichtshalber mit den Freunden abklären, die die Lage halbwegs klar sehen. (Hanna)
  • Nicht jede Stelle annehmen: Ein Job ist ein Job ist ein Job. Das heißt, man macht ihn vorrangig aus einem Grund: Man verdient Geld. Jetzt bitte kein Kapitalismus-Bashing, ich bin selbst niemand, der einen 60-Stunden-80-Mille-Job machen will. Die Hälfte reicht mir vollkommen. (Ja, von beidem – das wäre toll.) Ein Job muss sich auch mit der eigenen Lebensrealität in Abgleich bringen lassen – man ist nur dann gut in einer Position, wenn man nicht das Gefühl hat, dafür sein restliches Leben zu opfern. Märtyrer gehören in die Geistesgeschichte, nicht in die Berufswelt. Begeht nicht Karōshi. Das ist es nicht wert. Man muss wissen, wann Feierabend ist. Kurz: Nehmt nur Stellen an, die eure Beziehungen, Interessen und Finanzen gleichermaßen fördern oder zumindest nicht zu stark belasten. (Dennis)

Know your stuff

  • Keine Initiativbewerbungen: Die hochgelobten Initiativbewerbungen sind meiner Erfahrung nach vollkommen gehyped. Die großen Verlage werden auch damit überrannt und die kleinen Verlage haben nicht die Möglichkeiten, mal schnell eine Stelle zu schaffen. Das Konzept bringt meines Erachtens nur etwas, wenn man einen gezielten Tipp bekommt, dass es bei einem bestimmten Unternehmen tatsächlich was bringt. (Hanna)
  • Nicht um jeden Preis nach dem vermeintlichen Traumjob suchen: Es gibt nicht nur einen Traumjob. Fast genauso wichtig wie die Jobbezeichnung sind die Kollegen, der Chef, das Unternehmen an sich, der Standort … Wenn eine andere Art von Job, an die man erstmal nicht gedacht hat, klappt, sollte man die nehmen! Erfahrungen sind prinzipiell immer gut und wenn man nach zwei Jahren immer noch seinem Traumjob hinterher trauert, kann man jederzeit einen neuen Versuch starten. Aber je mehr man sich fokussiert – in welcher Hinsicht auch immer -, desto weniger Angebote gibt es. (Hanna)
  • Netzwerken: Ja. Sagt jeder. Social Media, Konferenzen, Messen, Projekte, Initiativen. Machen aber irgendwie gar nicht viele und deswegen ist es ein guter Weg, sich zu profilieren. Zumindest während des Studiums und kurz danach, wenn man a) selbst noch nach Orientierung sucht und b) viel Zeit hat. Ehrenamt sollte natürlich nur ausgeübt werden, wenn man wirklich Spaß dran hat, aber dem Lebenslauf schadet es in Maßen auch nicht. (Dennis)
  • Agenturen, Agenturen, Agenturen: Wohnungen findet man am besten per Makler, wenn sich nicht zufällig etwas über private Kanäle ergibt. Und so ähnlich ist das auch mit Jobs. In der Kartei einer passenden Agentur aufzutauchen, ist jedenfalls nicht schädlich. Und manchmal führt es dazu, einen passenden Job zu finden. Probiert es! (Dennis)
  • Don’t give a sh**! Der wichtigste Tipp von allen: Regt euch nicht auf. Je wichtiger das Thema, desto weniger Aufregung hat es verdient. Benehmt euch wie Psychopathen, wenn es sein muss. Aber bleibt einfach ruhig und kommt irgendwie durch. (Dennis)

Also: Ruhe bewahren. Der Arbeitsmarkt für Geisteswissenschaftler ist nicht gut. Es gibt sogar Vereine, die sich mit diesem Problem beschäftigen (wenn auch mit eher mediokrer Website). Das heißt aber auch, dass es allen so geht. Ein Job oder kein Job ist kein Indikator dafür, ob jemand eine gute Arbeitskraft ist oder nicht. Hanna neigt dazu, Arbeitssuche für ein komplettes Glücksspiel zu halten. Dennis denkt, dass das Prinzip hinter der Arbeitssuche antirational arbeitet: Je mehr man sich bemüht, desto schlimmer wird es.

And now to something completely different: Liebe Personaler …

Liebe Personalverantwortliche in den Verlagen – und natürlich auch in allen anderen Unternehmen -, wir müssen an dieser Stelle auch mal ein paar Dinge loswerden, die nicht gehen. GAR NICHT. Da wären:

  • Keine Eingangsbestätigung (v.a. bei E-Mail-Bewerbungen)
  • Keine Antwort (also so gar nie …)
  • Online-Bewerbungssysteme (funktionieren meist nie so, wie sie sollen, und sind überflüssigste Mehrarbeit, weil alles Wichtige eh schon im Lebenslauf steht)
  • Wochenlang nichts von sich hören lassen und dann spontan am Telefon fragen, warum man gerade an diesem Unternehmen interessiert ist (als ob man sich nur bei einem einzigen Unternehmen beworben und seine Unterlagen auswendig gelernt hätte …)

Liebe Bewerber, bei solchen Unternehmen solltet ihr dann auch zweimal darüber nachdenken, ob ihr da arbeiten wollt. Oder dreimal.

Verlage entdecken sich als Händler

Ein neuer Trend im Buchhandel – gut, ein noch zaghafter Trend. Aber es ist doch bemerkenswert, dass mehrere Verlage (z.B. Oetinger, Lübbe, Coppenrath) sich jeweils ein eigenes Ladengeschäft leisten. Interessanterweise gehen alle Verlage mit ihrem Konzept in die Richtung der Medienläden, die Dennis und ich im Fazit einer unserer letzten Umfragen beschrieben haben. Was soll man davon halten?

Gute Gründe dafür

Es sind Experimentierfelder und als solche gut und wichtig – sofern sie wirklich so genutzt werden und man nicht nach einem halben Jahr Experimentierphase zum Tagesgeschäft weitergeht. Und es kann helfen, die Buchhandlungen bei der teils engen Zusammenarbeit besser zu verstehen, sie gezielter zu unterstützen und ihnen sogar Erfahrungswerte zu bestimmten Titeln oder Aktionen weiterzugeben.

Gute Gründe dagegen

Natürlich besteht umgekehrt die Gefahr, dass das Verhältnis Buchhandlung – Verlag leidet, wenn Letzterer anfangen sollte, Ersteren über sein Kerngeschäft zu belehren. Beim Konkurrenzargument bin ich etwas unschlüssig: Im Moment scheint es da noch nicht viel Konkurrenz zu geben, aber wenn sich der Trend zur eigenen Buchhandlung ausweiten sollte, verstehe ich den kritischen Blick einiger Buchhandlungen.

Was überwiegt

Für mich ist ausschlaggebend: Die Verlage tun was. Und das ist in Zeiten unserer heutigen Veränderungen und auch sonst gut. Abgesehen davon erfordert es Mut, sein gewohntes Geschäftsumfeld zu verlassen und sich in eine Richtung zu bewegen, von der man bislang eher wenig Ahnung hat. Wünschenswert wäre es, wenn die vielen neuen Erkenntnisse, die dabei gesammelt werden, nicht bei den Verlagen hängen bleiben, sondern die (Branchen-)Öffentlichkeit viel davon mitbekommt.

Keine E-Books, wohin man schaut

Ich stehe unter Schock. Etwa seit ich diese Infografik des Börsenvereins gesehen habe, wonach 68 % der Buchhandlungen E-Books anbieten, aber nur 53 % der Verlage überhaupt E-Books produzieren. Da wird seit einiger Zeit Buchhandlungs-Bashing ohne Ende betrieben – die eine Hälfte sagt, dass die Buchhandlungen endlich auf den E-Book-Zug aufspringen müssen, und die andere Hälfte sagt, dass die Buchhandlungen sowieso keine Überlebenschance mehr haben – und dann stellt sich heraus, dass sich relativ gesehen viel weniger Verlage als Buchhandlungen um E-Books bemühen.

Verzerrte Wahrnehmung

Es ist mir unklar, wie genau das passieren konnte – dass branchenfremde Beobachter zu diesem verzerrten Bild kommen, okay. Aber auch innerhalb der Branche und in den einschlägigen Medien ist in letzter Zeit fast nur noch von den Buchhandlungen und deren Aufholbedarf die Rede. Haben es die vielen kleinen Verlage geschafft, einfach „durchzurutschen“, nachdem die großen Verlage der Reihe nach öffentlichkeitsgewaltig auf den E-Book-Zug aufgesprungen sind? Oder ist auf Verlagsseite das Geschäftsmodell weniger bedroht, so dass man hier weniger Raum für grundlegende Diskussionen hat?

Liebe Verlage …

Foto eines E-Book-Readers auf einem Tisch
photo credit: Wiertz Sébastien via photopin cc

… bitte macht E-Books! Der Gerechtigkeit halber. Ja, das ist ein zusätzlicher Aufwand in der Herstellung und in den Prozessen, aber das E-Book-Geschäft wächst seit ein paar Jahren wirklich. Und wahrscheinlich habt ihr noch ein paar Jahre Übergangsfrist, aber wenn ihr danach keine E-Books anbietet, werdet ihr als ultra-out wahrgenommen und vergrault eure Leser – ist ähnlich wie mit der Rechtschreibreform, die auch alle doof fanden, nach der aber mittlerweile kein Hahn mehr danach kräht. Jetzt habt ihr noch Zeit, euch in Ruhe umzustellen – nutzt sie bitte! Ich möchte in Gesprächen mit branchenfremden Freunden nicht immer die nette, aber doch etwas wirklichkeitsfremde Branche verteidigen müssen, die haptische Bücher so toll findet, dass sie darüber jegliches Geschäftsmodell vergisst …

Weihnachten 2022 – die überleben wollen! [Halbadventskalender]

Vielen Dank an Steffen Meier, Leitung Verlagsbereich Online beim Ulmer Verlag, für die Antwort auf unsere Halbadventskalenderfrage!

Die feine Ironie des Titels erschließt sich vermutlich eher den Senioren unter den Lesern dieses Blogbeitrags. Für die Nachgeborenen: es handelt sich um eine Anspielung auf den Film „Soylent Green“, auf deutsch eben „Jahr 2022 … die überleben wollen„. Eher eine Dystopie von Regisseur Richard Fleischer mit dem damals omnipotenten Charlton Heston in der Hauptrolle.

Quelle: Wikipedia

Aus der Sicht des Jahres 1973, in dem der Film gedreht wurde, eine potentiell durchaus denkbare Zukunft, in der industrieller Kannibalismus betrieben wird, um Hungersnöte zu vermeiden. Wir Gegenwärtigen, die wir viel näher an diesem Datum leben, empfinden eher amüsiertes Gruseln – undenkbar, dass so etwas in einem zivilisierten Staat in 10 Jahren passieren könnte. Und da kommen wir eben auch zu den prognostischen Problemen, auf die schon Matthias Horx, seines Zeichens Trendforscher, hingewiesen hat: „Wir können uns die Zukunft immer nur als Apokalypse, Konsumhölle oder absurden Comic-Strip vorstellen. Wenn wir aber einmal dort sind, wird sie sich als ganz normaler Ort zum Lieben, Heiraten, Autofahren und Kinderkriegen erweisen.“

Jetzt stellt sich der Schreiber dieser Zeilen natürlich kopfkratzend die Frage, wie er denn elegant den Bogen vom Kannibalismus zum Weihnachtsfest hinbekomme? Am besten durch Ignoranz des vorher Geschriebenen („Was gehen mich meine dummen Worte zwei Absätze weiter oben an?“) und den direkten Sprung zu Horx: Auch Weihnachten 2022 wird ein ganz normaler Ort zum Feiern, Trinken, Beschenken und Familienstreiten sein. Das liegt aber immanent in solchen traditionsbeladenen Festivitäten verankert – wir wollen ja gar nicht Veränderung im Ruheraum Weihnachten, wir brauchen diesen Fixpunkt mit Bezug meist zur eigenen Kindheit.

Ob wir entfernte Verwandte per Fernsehvideofonie belämmern, den einen oder anderen E-Book-Gutschein verschenken oder gar eines der neuen, rollbaren Smartphones, ob wir inzwischen erste Geschenke dem hauseigenen 3D-Drucker entlocken – es wird am Kern des Weihnachtsfestes wenig ändern, es vielleicht in der medial durchdrungenen Alltagshektik zum überlebensnotwendigen Panic Room der Ruhe machen.

Abseits des Weihnachtsfestes wird es aber mit Sicherheit zu Veränderungen kommen, die fortschreitende Digitalisierung unserer Lebens- und Arbeitswelt wird alltäglich sein, Datenbrillen und Digitale Identitäten werden uns beschäftigen, der Schutz unseres digitalen Selbst versus durch Post Privacy erreichbare Mehrwerte bestimmt die Diskussionen. Die Welt wird weitgehend endgültig zum digitalen Dorf – mit allen Nachteilen, die eine Dorfkultur so mit sich bringt. Unsere Loyalitäten verschieben sich hin zu globalen Tribes, weniger zum regionalen Raum, in den wir hineingeboren wurden. Mit Sicherheit wird aber die Wissenschaft weder die Mechanik eines Warpantriebs noch das Geheimnis der sockenfressenden Waschmaschinen geklärt haben (das geschieht erst zehn Jahre später und hat mit schwarzen Miniatur-Löchern und der Entdeckung eines von intelligenten Socken bewohnten Paralleluniversums zu tun).

Insofern wird zumindest Weihnachten 2022 so bleiben wie wir es gewohnt sind – außer, uns fällt doch noch der Himmel auf den Kopf. Oder die Vogonen bauen ihre Umgehungsstraße …

Ich wünsche mir seit Jahren, wenn meine Mutter mich nach meinen Weihnachtswünschen fragt, immer dasselbe: „Ruhe und Frieden“. Das wünsche ich den Lesern dieser Zeilen natürlich auch.

"Unsicherheitskompetenz", Fanbeziehungen und die künftige Rolle der Verlage

Stephan Porombka beim Buchreport (wo sich übrigens kein Link auf seine einzige Webpräsenz findet) im Interview:

[M]an wird wohl entwickeln müssen, was der Soziologe Dirk Baecker Unsicherheitskompetenz nennt. Denn das Entscheidende an den kommenden Veränderungen wird sein: Sie stellen keine Stabilität mehr her.

Das dürfte sich schwer gestalten, denn

[das größte Problem der Verlage] wird sein, sich möglichst flexibel auf die ständig wechselnden Bedingungen einzustellen. Das ist natürlich wahnsinnig schwer. Vor allem, weil im gesamten Literaturbetrieb die Strukturen alt und die Rollenmodelle extrem festgeschrieben sind.

Tradition und Angst sind und bleiben vorerst wohl die bestimmenden Faktoren in der Branche. Das ist nicht zu ändern, höchstens daran zu rütteln. Sie verhindern Kreativität, Flexibilität und die eingangs erwähnte „Unsicherheitskompetenz“, also die Fähigkeit, mit Unsicherheit zu planen und umzugehen. Sie verhindern Experimente, die nötig sind, um neue Formen und Formate zu finden (und natürlich neue Inhalte), sei es in Sachen Produktentwicklung, Marketing, Werbung.

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Feststellungen zur Suhrkamp-Blog-Aktion zu Clemens Setz:

Da wird behauptet, hier gebe es bis zur Buchmesse täglich reichlich Zusatzmaterial zum Buch. Aber was passiert auf der Seite? Es tröpfelt nur. Aber keine Literatur, sondern Marketingaktionen: Hey, macht bei unserem Gewinnspiel mit! Kommt zu den Lesungen! Lest einen Auszug aus dem Roman und kauft es dann!

Das ist ein gutes Beispiel für falsche Ansprache der Zielgruppe. Andererseits muss man sich fragen, ob die Zielgruppe tatsächlich über den Kanal eines Blogs erreicht wird. Und wiederum andererseits wird sie das nie sein, wenn man nicht eines Tages damit anfängt. Dann organisiert sich die „Fan-Gemeinde“ woanders im Netz – was nicht das Ziel sein kann, wenn man als Verlag in die Fan-Autor-Beziehung eintreten will.