Als ich anfangs die Meldung las, dass es in den USA Überlegungen zu Warnhinweisen auf Literatur gibt, war ich als eine der wenigen in meinem Umfeld nicht erschrocken und abwehrend, sondern ziemlich angetan. Dank der Gedanken von Barbara sehe ich das Thema jetzt etwas differenzierter und möchte sie euch daher nicht vorenthalten.
Studenten in den USA plädieren für Warnhinweise auf Literatur. Im Ernst? Im Ernst. Bestimmte Inhalte, heißt es, könnten für bestimmte Menschen im Zusammenhang mit von ihnen durchlebten Traumata schädlich sein. So könnte die Szene einer Vergewaltigung z.B. bei Opfern sexuellen Missbrauchs zu einer posttraumatischen Belastungsstörung beitragen. Dabei ist die Definition der potenziell Betroffenen weit gefasst: Kriegsveteranen und Suizidgefährdete gehören dazu sowie Diskriminierte aller nur denkbaren Kategorien, vom Antisemitismus bis hin zur körperlichen Behinderung. So weit, so gut gemeint.
Hier lauert allerdings schon das erste Problem: Das sind ganz schön viele Kriterien, nach denen Unterrichtsmaterialien durchforstet werden müssten, und ganz schön vage. Denn ab wann sind Inhalte verstörend? Nicht nur zwischen Betroffenheitsgruppen, auch zwischen Individuen dürfte es hier deutliche Unterschiede geben. Die Menschen, von denen die Markierung verlangt wird, in diesem Fall also die Lehrbeauftragten von Universitäten, stünden so vor einer kaum bewältigbaren Aufgabe. Selbst wenn nach bestem Wissen und Gewissen ausgeführt, könnte immer noch ein Student eine Textstelle finden, die ihn persönlich verstört. Und dann? Würde er den Professor beim Rektor anzeigen, ihn vielleicht sogar verklagen? Kein Stoff wäre mehr „sicher“, selbst die Diskussionen im Unterricht müsste ein Dozent vorsichtig moderieren, einschränken, abwürgen. Die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlich brisanten Themen, die schließlich zur Kernaufgabe einer Universität gehört, wäre in so einem Klima nicht mehr möglich.
Aber nehmen wir an, ein Markierungssystem wäre tatsächlich für alle Varianten der Betroffenheit umsetzbar – welche Folgen hätte es? In erster Linie, ja, der Vergewaltigte könnte potenziell retraumatisierendem Stoff entgehen, die Suizidgefährdete sich vor, na ja … Weiterer Haken: Sie könnten sich auch gezielt Inspiration für ihr Vorhaben suchen. Davon aber mal abgesehen, nehmen wir an, die Markierungen hätten den gewünschten Effekt und die Betroffenen wären vor erschreckenden Erlebnissen sicher. Problem zwei also: Die Vorsicht der Dozenten, keinen falschen Schritt zu machen, würde auf Dauer dazu führen, dass bestimmte Themen nicht mehr so intensiv diskutiert würden. Dadurch würde die Scheu vor solchen Diskussionen zunehmen, und wäre der Teufelskreis erst einmal in Bewegung und die Warnhinweise nicht nur an der Uni eingeführt, würden sich vielleicht auch die Autoren bzw. deren Verlage gut überlegen, ob bestimmte Stoffe das abschreckende Label noch wert wären – Vergewaltigung innerhalb der Familie, das will doch heute keiner mehr lesen! Ein Geschichtsbuch zum Ersten Weltkrieg – versuchen Sie’s doch mal beim Konkurrenzverlag!
Und was würde das für Betroffene bedeuten? Ganz klar: eine geringere Wahrnehmung ihres Problems, dadurch weniger Aktivität zu dessen Beseitigung und gleichzeitig eingeschränkte Möglichkeiten, sich selbst damit auseinanderzusetzen, darüber zu sprechen, Hilfe zu holen. Langfristig hätten Warnhinweise der vorgeschlagenen Art also vor allem für die Betroffenen eine negative Auswirkung. Die einzigen, die wirklich davon profitieren würden, wären konfrontationsscheue Menschen, die sich aus Bequemlichkeit lieber in rosa Watte einwickeln als sich einzugestehen, dass diese Welt auch ihre unschönen Seiten hat und man – Achtung, Aufwand! – dagegen vielleicht sogar etwas unternehmen kann.
Barbara Hiller hat bei Dorling Kindersley ein Volontariat als Kinder- und Jugendbuchlektorin absolviert und ist nun auf Jobsuche. Sie bloggt auf www.schreibstoff.com, schreibt Artikel für die Zeitschrift Spotlight und liest gerade Wunder von Raquel J. Palacio.